Weniger ist mehr


Geschätzte Leserinnen
Geschätzte Leser

 

Das Schuljahr 2022/23 war so lebendig und bunt wie die Jugendlichen, welche das Schulleben des Literargymnasiums Rämibühl prägen! Es freut mich, Ihnen mit dem vorliegenden Jahresbericht Einblick in das vielfältige Schulleben, einige Höhepunkte wie die erfolgreichen Maturitätsprüfungen und etliche erfreuliche Zahlen, wie zum Beispiel diejenigen zum Bestehen der Probezeit, zu geben.

Das positive Gesamtbild des Schuljahres wird getrübt durch die gesundheitlichen Probleme einzelner Schülerinnen und Schüler. Wie wir den Medien entnehmen konnten, hat seit der Corona-Krise ein deutlicher Anstieg psychischer Erkrankungen unter Jugendlichen stattgefunden. Auch am LG beobachten wir diese Entwicklung. Deren Ursachen sind ebenso vielfältig wie individuell. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass sie auch mit der schulischen Belastungssituation der Jugendlichen zusammenhängt. Für die Schulen besteht also Handlungsbedarf; dies gilt insbesondere für den leistungsorientierten Schultypus Gymnasium.

Die aktuellen kantonalen und schweizweiten Projekte zur Weiterentwicklung des Gymnasiums tragen nicht zur Entschärfung der Problematik bei, im Gegenteil. Auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert die Bildungspolitik seit Jahren, indem sie weitere Fächer zum gymnasialen Fächerkatalog hinzufügt, ohne bisherige Fächer zu streichen. Im kantonalen Projekt «Gymnasium 2022» wurden in der gymnasialen Unterstufe das Fach «Religionen, Kulturen und Ethik» hinzugefügt und der MINT-Bereich gestärkt, was an den meisten Langgymnasien zu einer Erhöhung der Stundendotation geführt hat. Im Obergymnasium wurden vor 15 Jahren die interdisziplinären Ansätze in den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften durch Einzelzählung der beteiligten Fächer ersetzt und danach die beiden Fächer «Informatik» und «Wirtschaft und Recht» eingeführt. Dadurch erweiterte sich der Katalog der gymnasialen Promotionsfächer von 9 auf 13. Das Fächer hinzufügende Verfahren der letzten zwei Jahrzehnte und die Belastung durch Prüfungen und Projektarbeiten führen manche Schülerinnen und Schüler an ihre Leistungsgrenzen.
 

Was ist zu tun? Wie können wir unsere Schülerinnen und Schüler entlasten und gleichzeitig die  Bildungsqualität an unseren Gymnasien stärken?

«Wir streben ein gesundes Gleichgewicht von Fordern und Fördern, von Leistungsorientierung und Musse an», heisst es im Abschnitt «Balance» des Leitbildes, welches das Kollegium des Literargymnasiums im Frühling 2021 verabschiedet hat. Mit der Einführung einer Reihe von schulischen Unterstützungsmassnahmen (Pilotversuch Schulsozialarbeit, individuelle Coaching in den 1. Klassen, Fachtutorate im UG etc.) sind wir am LG bestrebt, diese Balance zu gewährleisten. Um sie längerfristig sicherzustellen, braucht es meiner Meinung nach aber tiefergehende strukturelle Massnahmen. Sie lassen sich mit den Begriffen Verzicht, Entschleunigung und Vernetzung zusammenfassen. Diese Massnahmen betreffen nicht das LG als Einzelschule, sondern alle Schweizer Gymnasien.

Unserem Leben geben wir u.a. dann Sinn, wenn wir verzichten. Das gilt auch für Schulen. Indem wir Unwesentliches ausscheiden und uns auf das Wesentliche konzentrieren, geben wir Raum für mussevolles, konzentriertes und erfolgreiches Lernen. Angesichts der in der Vergangenheit beschlossenen Erweiterung des gymnasialen Fächerkatalogs wird die Herausforderung der Gymnasien in Zukunft darin bestehen, sich im Rahmen der Umsetzung des Projekts «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» zu überlegen, welches Faktenwissen und welche Denkkonzepte die Maturandinnen und Maturanden zwingend für die allgemeine (nicht die fachspezifische!) Studierfähigkeit brauchen und welche Inhalte aus dem bisherigen Stoffkatalog gestrichen werden können.

Auf der gesamtschulischen Ebene sollte dem Leistungsdruck mit der Einführung einer Jahrespromotion begegnet werden, die nicht nur – wie im Projekt «Gymnasium 2022» vorgesehen – die letzten zwei, sondern sämtliche Klassenstufen des Maturitätslehrgangs umfasst. Dadurch können die Anzahl Prüfungen markant reduziert, der Schulalltag entschleunigt und Raum für grössere Unterrichtseinheiten sowie eigenverantwortliches Lernen geschaffen werden. In den letzten zwei Jahren des Maturitätslehrgangs könnte der Fächerkatalog reduziert werden, z.B. auf die Kernfächer Deutsch, Mathematik, die 2. Landessprache und Englisch sowie je ein Fach aus den Bereichen Sprachen, MINT, Kunstwissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften.

Zur Entschleunigung sollten zudem Unterrichtsmodelle mit grösseren Gefässen entwickelt werden (Doppel- statt Einzellektionen, Projekttage, Studienwochen, Phasenmodelle), in welchen sich die Schülerinnen und Schüler in Themen vertiefen und die Lehrpersonen individueller unterrichten und fächerübergreifend arbeiten könnten. In diesen Unterrichtsmodellen bestünde Raum zur Vertiefung der allgemeinen Studierkompetenzen, u.a. für die Nutzung und Reflexion digitaler Tools und KI (ChatGPT, DALLE etc.) als Assistenten des Lernprozesses.
 

Welche Bildung braucht es im 21. Jahrhundert für die Studierfähigkeit? Und noch wichtiger: Welche Bildung brauchen jungen Menschen für ein gesundes, glückliches Leben?

Ich bin überzeugt, die Antwort auf beide Fragen lautet: Verzicht. Wir sollten unseren Schülerinnen und Schülern mehr Zeit geben, um sich in Themen zu vertiefen. Wir sollten Fächer und Gefässe schaffen, in welchen sie Zusammenhänge zwischen den Fachdisziplinen erkennen können. Wir sollten den Prüfungsdruck reduzieren und die Leistungsbeurteilung in den Dienst des Lernens stellen. Kurzum: Wir sollten dem Gleichgewicht von Leistungsorientierung und Musse mehr Aufmerksamkeit schenken. «Weniger ist mehr» lautet die Maxime der Zukunft (das gilt wohl nicht nur für das Gymnasium). Wenn wir ihr folgen, werden wir den gymnasialen Bildungsweg anspruchsvoller, Gewinn bringender und gesünder machen!

Geschätzte Leserinnen und Leser, mit diesen Gedanken und Wünschen für die Zukunft verabschiede ich mich von Ihnen als Rektor des Literargymnasiums Rämibühl. Ich danke Ihnen herzlich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, die vielen guten Gespräche, die Unterstützung und die konstruktive Kritik der vergangenen vier Jahre!
 

Herzlich
Markus Lüdin, Rektor